Der Gesang der Berge by Nguyễn Phan Quế Mai

Der Gesang der Berge by Nguyễn Phan Quế Mai

Autor:Nguyễn Phan Quế Mai [Mai, Nguyễn Phan Quế]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Agent Orange, Familienepos, Familiengeschichte, Familiensaga, Hanoi, Landreform Vietnam, Min Jin Lee, Ein einfaches Leben, Ocean Vuong, Auf Erden sind wir kurz grandios, Saigon, Viet Thanh Nguyen, Der Sympathisant, Vietnam Geschichte 20. Jahrhundert, Vietnamkrieg, historischer Roman, transgenerationales Trauma
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2021-03-15T00:00:00+00:00


Das Geheimnis meiner Mutter

Hà Nội, 1975-1976

Als ich in dieser Nacht bei Onkel Đạt saß und seiner Geschichte lauschte, erkannte ich, wie abscheulich der Krieg war. Wenn er diejenigen, die er berührte, nicht tötete, nahm er ihnen einen Teil ihrer Seele, sodass sie nie wieder ganz werden konnten.

Ein Schluchzen. Großmama trat aus der Dunkelheit, das Gesicht glänzend von Tränen, und legte die Arme um Onkel Đạt. »Was für eine Reise du durchmachen musstest. Es tut mir so leid, Sohn.«

»Mir tut es auch leid, Mama … dass ich so lange gebraucht habe, um nach Hause zu kommen.«

»Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Hauptsache, du bist hier.«

Der bàng-Baum bewegte sich, und seine Zweige raschelten auf unserem Dach. Ich hatte gesehen, dass zwei braune Vögel in einem der oberen Äste ein Nest bauten. Jetzt hörte ich, wie sie einander riefen. Die Sonne war zwar noch nicht aufgegangen, aber ich sah Licht am Horizont: Nun, da Onkel Đạt wieder hier war, würde meine Mutter bestimmt zurückkommen.

»Tee?«, fragte ich.

Großmama schlüpfte in ihre Jacke. »Legt euch wieder schlafen, alle beide.« Sie ergriff den Lenker ihres Fahrrads, dann drehte sie sich noch einmal lächelnd zu Onkel Đạt um. »Ngọc und Sáng werden sich so freuen, dich zu sehen.«

Ich füllte gerade Wasser in den Kessel, da sagte Onkel Đạt: »Hương, du musst mir einen Gefallen tun.«

»Gern.« Ich nickte, da ich annahm, es ging um Nachschub vom Reisschnaps.

»Ich hoffe, Nhung kommt nicht wieder her. Falls doch, sag ihr, ich bin nicht da.«

»Aber warum, Onkel?«

»Tja … Dinge ändern sich. Menschen ändern sich.«

Ich zögerte. Fräulein Nhung hatte am Abend so unglücklich ausgesehen. »Tut mir leid, aber ich kann sie nicht anlügen. Fräulein Nhung ist viel netter zu Großmama gewesen als Onkel Sángs Frau. Sie ist eine der wenigen, die uns trotz Großmamas Arbeit noch besuchen.«

»Zwischen uns ist es aus, Hương.«

»Sie hat mir das Radfahren beigebracht –«

»Das ist mir egal, und ich will nicht mehr über sie reden, verstanden?«

Seine Stimme klang so hart, dass ich mich abwandte.

Nach dem Frühstück, als ich gerade die quiekenden Ferkel füttern wollte, klopfte es an der Haustür. Ich öffnete, und da stand meine Mutter. Sie weinte.

»Hương, wo ist dein Onkel?«

Onkel Đạt saß mit dem Rücken zu uns, reglos wie eine Statue.

»Đạt!« Meine Mutter stürzte auf ihn zu.

Erst rührte mein Onkel sich nicht, dann sah ich, wie seine Schultern bebten. Er ergriff die Räder seines Rollstuhls und drehte sich um. Das Morgenlicht fiel auf seine eingesunkene Brust, sein hageres, bärtiges Gesicht, seine Beinstümpfe mit den schrecklichen Narben.

»Schwester Ngọc.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

Schluchzend umarmte meine Mutter meinen Onkel.

»Du bist zu Hause.« Sie kniete sich hin und berührte seine Stümpfe. »Deine Beine … Es tut mir so leid.«

»Mama hat mir erzählt, dass du auch auf den Schlachtfeldern warst. Ich bin froh, dass du lebend da rausgekommen bist.«

»Ich wünschte, sie hätten mir stattdessen Arme und Beine genommen.«

»Warum sagst du das? Was ist passiert?«

Meine Mutter antwortete nicht. Ihr Rücken war gebeugt, als trüge sie eine Last, die schwerer war als sie selbst.

»Ist dir etwas Schlimmes zugestoßen? Erzähl's mir.« Onkel Đạt trocknete ihre Tränen.



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